Ein kalter Morgen zum Fischezählen: Auf dem grauen Bodensee treffen Fischer und Forscher vor dem österreichischen Ufer für eine ganz besondere Inventur zusammen. Sie fahren mehrere Netze an unterschiedlichen Standorten an. «Die ersten Fänge kommen gleich», sagt Berufsfischer Franz Blum, der kurz darauf Dutzende Fische aus dem Wasser zieht.
In welchem Zustand sind sie? Wie groß, wie schwer? An Land schauen sich die Fischereibiologen die Fänge genauer an. Nach zwei Forschungsprojekten in den Jahren 2014 und 2019 wird alle fünf Jahre im Auftrag der staatlichen Fischerei und des Gewässerschutzes eine Bestandsaufnahme der Fische im See durchgeführt.
Rotaugen, Hechte, Zander, Barsche, Felchen: Alle bekannten Bodensee-Fische sind da. Doch eine eigentlich dominante Art ist nahezu verschwunden: der Stichling. Der kleine stachelige Fisch wurde Anfang der 50er-Jahre erstmals im Bodensee nachgewiesen und hatte sich ab 2012 überraschend vermehrt. Laut Fischereiforschungsstelle machte er bis Anfang des Jahres noch mehr als 90 Prozent der Fische im Freiwasser aus.
Genauso überraschend wie seine Vermehrung ist nun auch sein rätselhaftes Verschwinden. «Eigentlich müssten die Netze voll mit Stichlingen sein. Das ist eine Bucht hier, in der sie sich gerne aufhalten», sagt der Leiter der Fischereiforschungsstelle, Alexander Brinker. So sei es bei der letzten Inventur 2019 gewesen. «Aber wir haben erst nur ein paar wenige Exemplare aus dem Wasser gezogen», berichtet er. Warum?
So richtig erklären können sich die Wissenschaftler die ersten Ergebnisse ihrer Inventur nicht. Nichts habe auf ein massenhaftes Fischsterben im Bodensee hingedeutet. Im Frühjahr seien die kleinen Fische, die dem Bodensee-Felchen zu schaffen machten, zuhauf mit dem Echolot ortbar gewesen. «Wir haben bei den letzten Befischungen Hunderte von Stichlingen gefangen, jetzt sind es insgesamt keine 50.»
«Eine Pandemie könnte für den Tod der Fische verantwortlich sein», sagt Brinker. Aber auch ein Parasit sei denkbar. «Wenn die Population einer Art überhandnimmt, reguliert sich der Bestand oft von allein.» Die Dichte sei dann so hoch, dass es eine große Übertragungswahrscheinlichkeit von Krankheiten gebe. Auch die aktuelle Hochwasserlage im Frühjahr und Sommer könnte eine Rolle spielen. Die genaue Ursache für das Fehlen der Fische sei rückwirkend schwer zu ermitteln.
Für Forscher und Fischer wäre das Verschwinden der Stichlinge eine tolle Nachricht. Die wohl aus Aquarien in den See eingebrachte Art sorgte seit Jahren für ein Ungleichgewicht im Ökosystem. Den Bodensee-Felchen fraßen die Stichlinge das Plankton weg und machten sich auch über ihre Eier und Larven her. Der Bestand der Felchen, die eigentlich die Leitart im Bodensee sind, ging immer weiter zurück.
Im vergangenen Jahr gingen den Fischern lediglich etwas mehr als neun Tonnen des beliebten Speisefischs ins Netz. Es hätten aber 350 Tonnen sein können, wie Brinker erklärt. Das würde der See hergeben.
Um den Felchen-Bestand zu schonen, beschloss die Internationale Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei ein dreijähriges Fangverbot im Bodensee-Obersee. Das Verbot trat am 1. Januar dieses Jahres in Kraft. Viele Berufsfischer kritisierten die Maßnahme als Verzweiflungstat, die durch ein früheres Eingreifen hätte verhindert werden können.
Die Inventur, die vor etwa zwei Wochen vor der Insel Reichenau begann, zeige schon, dass sich die Felchen etwas erholt hätten. «Sie sehen nicht mehr so abgemagert aus», sagt Brinker, «aber ihr Bestand ist immer noch unnatürlich niedrig».
Die Inventur sei relativ umfangreich, sagt Fischereimeister Andreas Revermann. Etwa 400 Netze wurden laut Fischereiforschungsstelle auf dem ganzen See installiert. «Die Netze haben elf verschiedene Maschenweiten. Ein Fang von mindestens 50 Individuen pro Fischart wäre wünschenswert», sagt Revermann. «Aber wir können natürlich nur das nehmen, was in die Netze schwimmt.»
Da man natürlich nicht jeden Fisch im Bodensee einzeln zählen kann, müssen die Wissenschaftler hochrechnen, um einen möglichst guten Überblick über den Bestand, das Wachstum der Tiere und die Zusammensetzung und Verteilung ihrer Arten zu bekommen. Ein Teil der Fische werde nach der Inventur verkauft, ein anderer Teil werde für weitere Forschungszwecke genutzt.
Eine elfköpfige Mannschaft ist mit der Inventur beschäftigt: Sechs Fischer auf drei Fischerbooten und fünf, die messen, wiegen und protokollieren. «Entwickelt hat es sich der Bestand eher negativ. Das sieht man ganz klar in den Netzen, dass man nicht mehr so viele Fische fängt wie früher.»
Der 500 Quadratkilometer große Bodensee sei schwer zu befischen, sagt Brinker. Er sei tiefer als die Nordsee, wenn man sich die Abbruchkante zum Atlantik wegdenke. Die Inventur sei auch deshalb eine gewaltige Herausforderung, aber nötig.
2014 fand die erste Bestandsaufnahme statt, bis dahin habe man immer nur kleine Schlaglichter auf die Unterwasserwelt gehabt. Man habe vor allem Wissen über Fische gehabt, das für die Fischerei interessant gewesen sei. «Aber viele andere Fische sind auch wichtig für das Ökosystem.»
Bei der ersten Inventur sei ein Tiefseesaibling ins Netz gegangen, von dem man mehr als 40 Jahre geglaubt habe, er sei ausgestorben. «Das war eine Sensation. Heute hat sich der Bestand gefestigt, wie die anschließenden Fänge zeigen.»
Die Überraschung der diesjährigen Inventur aber ist der Stichling. «Wenn sich das massenhafte Verschwinden der Stichlinge bestätigt, könnte das ein wirklicher Gamechanger für eine Erholung der Felchenbestände sein», sagt Brinker.
(Text: Aleksandra Bakmaz, dpa)