Schenkt man den Befürwortern längerer Laufzeiten für Atomkraftwerke Glauben, ist die Sache ganz einfach: Mit einer Änderung des Atomgesetzes könnte der Bundestag die drohende Energiekrise im Winter abfedern. Der ab dem 1. Januar 2023 gewonnene Atomstrom, so die Lesart, senke den Gasverbrauch und stabilisiere Stromnetz wie Preise. Das klingt derart verlockend, dass sogar Kanzler Olaf Scholz (SPD) davon spricht, es könne «Sinn machen».
Wer sich aber länger mit dem Thema befasst, merkt schnell: Einfach ist bei dieser Frage gar nichts. Als sich vor wenigen Wochen die Chefs von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, am Atommeiler Isar 2 im bayerischen Essenbach vor die Kameras stellten, konnte es ihnen nicht schnell genug gehen. Eine Sondersitzung des Bundestages müsse her, noch im August, um das Gesetz zu ändern und neue Brennstäbe zu bestellen. An der Sicherheit des 1988 gebauten Reaktors gebe es schließlich keine Zweifel.
Zuvor war ein Schreiben des Prüf-Unternehmens TÜV Süd zur gleichen Einschätzung gekommen. Was die Atomaufsicht des Bundes wiederum scharf kritisiert – und das aus gutem Grund: Die Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ), die für einen AKW-Betrieb in Europa alle zehn Jahre verbindlich vorgeschrieben sind, liegen bei den drei deutschen Meilern sage und schreibe 13 Jahre zurück. Im Zuge des Atomausstiegs im Jahr 2011 wurde den Betreibern die Kontrollauflage erlassen, da klar war, dass die AKW Ende 2022 abgeschaltet würden.
Einem elfseitigen Vermerk des Bundesumweltministeriums vom 29. Juni zufolge ist der Verzicht auf eine PSÜ laut Atomgesetz aber so bedeutsam, dass dadurch «die Berechtigung zum Leistungsbetrieb unwiederbringlich erlischt». In dem internen Vermerk aus der Abteilung von Deutschlands Chef-Atomaufseher Gerrit Niehaus, der der dpa vorliegt, steht noch mehr: «Eine rechtlich zulässige Laufzeitverlängerung setzt also nach verbindlichem EU-Recht voraus, dass die gründliche Prüfung, die üblicherweise mehrere Jahre dauert, vor einem möglichen Weiterbetrieb stattfindet.»
Heißt im Klartext: Für den AKW-Weiterbetrieb braucht es eine PSÜ und eine neue Genehmigung zum Leistungsbetrieb – selbst im Fall eines Streckbetriebs, für den vorhandene Brennstäbe genutzt werden würden, wie es bei Isar 2 möglich sein soll. Nun könnte, so ist in den Ländern zu hören, eine PSÜ auch parallel zum (Streck-)Betrieb erfolgen. Dass die Meiler die Überprüfung bestehen würden, gilt aber als ausgeschlossen. Immerhin geht es auch darum, zu checken, ob die alten Meiler dem Stand von Forschung und Wissenschaft im Jahr 2022 entsprechen.
Und selbst wenn der Bundestag das Atomgesetz ändern und festlegen würde, dass die PSÜ auch diesmal wieder nicht zwingend sei, gäbe es noch weitere Hürden: Eine davon sind die Umweltverbände, die Klagen angedroht haben. In letzter Instanz wäre die Kernenergie dann wieder einmal ein Fall für das Bundesverfassungsgericht.
1978 hatten die Karlsruher Richter sich bereits mit der Frage befasst, ob die Kernenergie verfassungskonform ist. Damals bejahten sie es, betonten aber, dass die Nutzung nur verfassungsgemäß sei, wenn die Sicherheitsanforderungen den Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gewährleisten könnten. Ob die deutschen Meiler dies noch immer erfüllen, ist zumindest fraglich.
Insgesamt müssten die Entscheider auch abwägen, für welchen Energieertrag welches atomare Risiko akzeptabel wäre. Im Falle eines Streckbetriebes von Isar 2 betrüge der Anteil an der Stromproduktion laut Experten weniger als ein Prozent. Die Meiler Emsland in Niedersachsen und Neckar-Westheim in Baden-Württemberg könnten ohne neue Brennstäbe sogar gar nichts nennenswertes beisteuern.
Und dann ist da auch noch das Europarecht – es fordert ebenfalls die PSÜ als Voraussetzung für einen Leistungsbetrieb. Würden gar neue Genehmigungsverfahren notwendig, wären auch eine Beteiligung der angrenzenden EU-Länder und eine Umweltverträglichkeitsprüfung nötig. Auch das macht die Sache kompliziert.
Genau wie die Haltung der AKW-Betreiber. Die wollen im Falle einer Laufzeitverlängerung nämlich keine Verantwortung für Sicherheitsrisiken übernehmen. Damit müsste dann der Staat in die Haftung gehen. Der ist aber auch für die Kontrolle zuständig, was nicht nur einen Interessenkonflikt, sondern im Schadensfall auch Milliardenkosten mit sich bringen könnte.
Das gleiche gilt auch für die noch ungeklärte Suche nach einem Endlager für den hoch radioaktiven Atommüll – sollte es gar zum Weiterbetrieb mit neuen Brennstäben kommen, dürfte der fragile Konsens für das laufende Standortsuchverfahren schnell in einer Sackgasse landen.
Unterm Strich spricht vieles gegen eine Laufzeitverlängerung. Diese Position vertreten die von den Grünen geführten Ministerien für Umwelt und Wirtschaft seit Monaten. Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte noch am Sonntag über die Atomkraft: «Das ist nicht die günstigste Technologie und auch nicht die sicherste Technologie zur Versorgung von Europa und der Welt für die Zukunft.» Dass dennoch der zweite Stresstest in Auftrag gegeben wurde, um die Frage erneut zu prüfen, kann man auch als strategischen Zug betrachten: Wenn bei der für Ende des Monats erwarteten Vorlage herauskommt, dass die Kernenergie die Energieversorgung nicht wirklich verbessert, würde das den Befürwortern viel Wind aus den Segeln nehmen.
Auch Grünen-Chef Omid Nouripour verweist auf Nachfrage auf das Ergebnis des Stresstests, den man abwarten wolle. «Und dann entscheiden wir anhand der Fakten wie bisher.» Gleichzeitig macht er deutlich, dass er keine Zukunft für die Atomkraft sieht: «Das Gerede über den Wiedereinstieg, über Atomkraft als angebliche Zukunftstechnologie, ist eine Märchendebatte.»
Sollte der Stresstest aber genau das Gegenteil ergeben, dann hat Deutschland neben der Energiefrage auf längere Sicht wohl noch ganz andere Probleme.
(Von Marco Hadem und Fatima Abbas, dpa)