Bereits als sich zu Beginn des Jahres abzeichnete, dass es für noch nicht abgeschlossene Altfälle eine Amnestieregelung geben wird, hat man in Ulm die Akten der offenen Fälle geprüft. Da Cannabis bisher nach dem gleichen Paragrafen wie Heroin oder Kokain abgeurteilt wurde, mussten erst einmal alle Betäubungsmittel-Verfahren überprüft werden, ob es um Cannabis ging.
Weiter gingen die Prüfungen beispielsweise auf die Menge oder die Nähe zu Kindergärten und Schulen. 806 Verfahren waren zu prüfen auf mögliche Haftentlassungen oder die Reduzierung von Geldstrafen. Selbst ein Fall von 1995 musste überprüft werden, da der Täter vermutlich in das Ausland verschwunden ist und seine Strafe noch nicht angetreten hat. Falls er wieder nach Deutschland einreist, droht ihm nun wohl eine geringere Strafe.
Christof Lehr, der Leiter der Staatsanwaltschaft Ulm, hält das Gesetz für „so kompliziert gestrickt, dass wir erst einmal die Einzelfragen mit der Polizei und mit den Gerichten klären müssen.“ Als Beispiel führt er die Tabuzone rings um Kindergärten und Schulen an, denn dort ist für ihn noch nicht klar, ob da einhundert Meter mit dem Zirkel gezogen werden. Auch die Sichtweite ist für ihn nicht klar definiert: „Wird man straffrei, wenn man seinen Joint hinter einem Baum raucht?“
Bei den Gewalttaten sieht Lehr eine Verlagerung aus dem privaten Bereich hinein in den öffentlichen Bereich, auch im Bereich Ulm zeigt sich der bundesweite Trend. Dadurch ist auch die Gefahr gestiegen, Zufallsopfer zu werden. So wurde Anfang April vergangenen Jahres ein 17-Jähriger mit einer Glasflasche so am Hals verletzt, dass er nach mehreren Schlaganfälle dauerhafte Lähmungen und Sprachstörungen erlitten hat. Der junge Mann wollte lediglich als Passant bei einem Streit schlichtend dazwischengehen.
Der Leitende Staatsanwalt erinnerte auch an den Fall im Februar 2023, als vier junge Leute auf dem Kornhausplatz einen 25-Jährigen überfielen und schwer verletzten. Ein 13-jähriger Täter war strafunmündig, die 18-24 Jahre alten weiteren Täter wurden wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen zwischen sechs und elf Jahren verurteilt. „Ulm ist nicht ein gefährliches Pflaster geworden“ ordnet Lehr die Zahlen ein, doch es ist eine Tendenz, bei der auch die Staatsanwaltschaft genau hinschaut, nach Erklärungsansätzen sucht und schließlich konsequent vorgeht. Auch die Gerichte, an denen die Ulmer Staatsanwaltschaft anklagt, ziehen dabei in der Wahrnehmung des Chefanklägers mit.