Das Gleis 44 feiert dieses Jahr einen Geburtstag, den es eigentlich nie gegeben hätte. Denn ursprünglich war das kulturelle Zwischennutzungsprojekt hinter dem Hauptbahnhof nur für drei Jahre geplant. Jetzt sind es vier und zumindest für die nächste Zeit wird es trotz aller Schwierigkeiten der letzten Jahre lebensverlängernde Maßnahmen geben, verrät Gründungsmitglied und Geschäftsführer Samuel Rettig. „Das war ein hartes viertes Jahr, aber wir sind in dieser Zeit auch erwachsen geworden. Das hat sich aber alles gelohnt, wenn man sieht wie gut unser Konzept in Ulm ankommt. Wir machen auf jeden Fall so lange es geht weiter.“
Worauf Rettig da anspielt, sind die bürokratischen Hürden, mit denen das Gleis 44 seit letzten Herbst zu kämpfen hat. Nachdem das Kulturzentrum im Oktober 2021 kurzfristig schließen musste, lag es an Rettig und seinen Mitstreiter/-innen schnell eine neue Baugenehmigung zu bekommen, um überhaupt weitermachen zu dürfen. „Zusätzlich zu den pandemie-bedingten Schließzeiten war das eine große Belastung für uns - zeitlich, aber auch an Ressourcen“, sagt Rettig. Er sei aber auch voller Hoffnung für das neue Jahr gewesen und sie hätten hart daran gearbeitet wieder das Außengelände, also vor allem den Gleisgarten mit ihrem Biergarten-Konzept bespielen zu dürfen. Doch die Pforten blieben geschlossen - und werden es wohl bleiben, berichtet Rettig. „Wir wollen und können nicht so viel Geld in Anwälte und andere Fachleute stecken, dass eigentlich in die Kultur gehen soll. Das ist super schade, aber wir konzentrieren uns jetzt auf die Zukunft.“
Der Gleis-Geburtstag wird jedoch, wenn überhaupt, nur im kleinen Kreis gefeiert. „Wir freuen uns natürlich sehr über unser vierjähriges Bestehen. Aber da wir, wenn, dann nur im Club feiern könnten - draußen dürfen wir nicht - und das Gleis ja viel mehr als Club ist, lassen wir es lieber ganz.“
Keine halben Sachen. Das beweist Gleis-Chef Rettig auch mit seinen Plänen für die Zukunft: Nachdem er mit seinem Team im Pandemie-Sommer 2020 den "Kulturbiergarten Liederkranz“ auf die Beine gestellt und im darauffolgenden Jahr die Veranstaltungen des "Ulmer Kultursommer" unterstützt hat, blieb es dieses Jahr überraschend ruhig um "Samu". Allerdings nur um Ende des Sommers mit einer viel größeren Neuigkeit zu überraschen. Mit einem neuen Konzept konnte er sich bei der Stadt Ulm neben zwei anderen Bewerbungen für die fünfjährige Pacht im Liederkranz in der Ulmer Friedrichsau durchsetzen. „Auch wenn das Projekt Liederkranz parallel zum Gleis laufen wird, freuen wir uns natürlich wieder sehr tolle Sommermomente unter freiem Himmel schaffen zu dürfen. Und wir können die ganze Planung, die wir in das neue Gleisgarten-Konzept gesteckt haben, jetzt in der Friedrichsau einbringen“, so Rettig.
Gemeinsam mit dem Verein INDAUNA e.V., mit dem Rettig in Sachen Liederkranz eng zusammenarbeitet, geht es jetzt erst mal in die bürokratische Planung der Machbarkeit von Umbaumaßnahmen und um die Entwicklung für das Kulturprogramm 2023 auf der Liederkranz-Bühne.
Für das Gleis 44 Team steht im Herbst wieder viel an. „Unser größtes Projekt ist ein kleines Festival, dass wir mit Künstler/-innen aus der ukrainischen Subkultur auf die Beine stellen.“ Am 28. und 29. Oktober veranstaltet das Gleis 44 gemeinsam mit der Heinrich Böll Stiftung BW Ausstellungen und auch im Club werden an diesen Abenden ukrainische Gäste an den DJ-Pults stehen. „Wir können noch nicht ganz genau verraten, wer da kommt, weil wir mit Leuten im Gespräch sind, deren Aufenthaltsstatus unklar ist und die wir auch nicht unnötig gefährden wollen.“
Eigentlich war das Projekt seit 2020 als überwiegend russisches Kulturfestival geplant. „Wir wollten aufzeigen, dass Russland mehr ist als Putins Propaganda, UDSSR-Nostalgie und Matroschkas. Es gibt viele Akteur/-innen die aktiven Widerstand leisten und in diesem Jahr fliehen mussten. Deshalb sind am 17. September, anlässlich der Ulmer Kulturnacht, russische Exil-Künstler/-innen und Wiederstandsakteur/-innen eingeladen ihre Arbeiten im Gleis 44 zu präsentieren, verrät Rettig. „Ganz klar ist dabei, dass alle Akteur/-innen eine Deklaration unterschreiben, die den Angriffskrieg verurteilt und das die erzielten Einnahmen an Hilforganisationen in der Ukraine gehen.“
Darüber hinaus ist am 4. November die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel im Gleis 44 zu Gast mit einer Lesung. Außerdem wird es eine dreiteilige Konzertreihe aus Jazz- und Rockkonzerten geben. Und das Kulturzentrum will das pre-Pandemie Format „Entgleisung“ wieder aufleben lassen, bei dem klassische Konzerte im Gleis stattfinden - mit Flügel auf dem Dancefloor.
Außerdem sind noch kleinere Projekte im Rahmen der Nachwuchsförderung und mit studentischen Initiativen geplant. „Wir werden Workshops für Nachwuchs-DJs oder auch die Beteiligung von FINTA-Personen (Frauen, Inter Menschen, Nichtbinäre Menschen, Trans Menschen und Agender Menschen) anbieten, um allen die Chance zu geben, sich bei uns beteiligen zu können. Wie in den letzten Wochen nochmals deutlich sichtbar wurde, passiert in Ulm zu wenig Subkultur, was uns sehr leidtut. Die Workshops sind Ergebnisse nach Gesprächen mit der Popbastion und viel Brainstorming im Gleis-Team, um auch außerhalb unserer vier Wände einen Input für Ulm leisten zu können“, sagt Rettig. „Wir haben zum Glück jetzt wieder etwas mehr Planungssicherheit und es macht richtig Spaß diese ganzen Projekte und Veranstaltungen gemeinsam auf die Beine zu stellen.“ Auch die Mittel aus dem Förderprogramm „Perspektive Pop“ des MWK (Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg) wollen die jungen Kultur-Nerds für Nachwuchsförderung auf den Open-Air-Bühnen im nächsten Jahr einsetzten.